Auf der Suche nach Antworten mit dem Kantonschemiker Kurt Seiler. Von Christopher Schümann.
Dr. Kurt Seiler ist Lebensmittelchemiker. Er forschte in Analytischer Chemie an der ETH Zürich und der University of Alberta in Kanada. Er hat etwa sechzig wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht. Seit Oktober 2005 ist er Amtsleiter und Kantonschemiker der beiden Appenzeller Kantone und des Kantons Schaffhausen, ausserdem Mitglied des Verbandes der Kantonschemiker der Schweiz und der Kantonalen Vorsteher der Umweltschutzämter sowie in diversen Kommissionen des Bundes und der Kantone, mit Schwerpunkt Wasser und Pestizide.
Herr Seiler, Sie hatten sich schon in unserem Buch «Das Gift und Wir» zur Gefährdung des Trinkwassers in der Schweiz geäussert. Grund für eine grossflächige Kontamination des Trinkwassers im Schweizer Mittelland sind offenbar Abbauprodukte des Wirkstoffes Chlorothalonil. Bei diesen Stoffen haben toxikologische Untersuchungen im Jahr 2019 ergeben, dass eine Gesundheitsgefährdung nicht ausgeschlossen werden kann. Sie sagten, «dass es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern kann, bis solch langlebige Stoffe ausgewaschen werden.» Mit wie vielen Jahren rechnen Sie? Gibt es dazu Herstellerangaben, an denen man sich orientieren kann?
Chlorothalonil wurde in den 70iger Jahren als Fungizid zugelassen. Damals waren die Vorgaben an die Zulassung noch weniger restriktiv als heute. So sind in den Zulassungsdossiers beispielsweise nicht alle Abbauprodukte beschrieben, weil ihre Strukturen nicht bekannt waren. Zu einzelnen Abbauprodukten gibt es zwar Angaben zu den Abbaugeschwindigkeiten, diese Werte sind allerdings nicht direkt auf die reellen Situationen übertragbar. Die Erfahrung zeigt, dass Stoffe, die im Grundwasser grossflächig nachweisbar sind, sehr schlecht abgebaut werden. Ansonsten hätten sie es nicht bis ins Grundwasser «geschafft». Stoffe wie Atrazin oder Chloridazon desphenyl haben gezeigt, dass sie sehr lange im Grundwasser verbleiben. Eine genaue Angabe kann ich nicht machen, weil Abbau- und Migrationsprozesse beispielsweise durch die Bodeneigenschaften oder die Erneuerungsrate des Grundwassers einen Einfluss auf die Aufenthaltsdauer haben.
Wäre es angesichts der vermehrt auftretenden Probleme nicht sinnvoll, den Einsatz von synthetischen Pestiziden generell in Trinkwassereinzugsgebieten zu verbieten? Da würden dann die kostspieligen Massnahmen zur Schadensbegrenzung wegfallen und auch der Kontrollaufwand wäre wesentlich geringer.
Es braucht dringend strengere Anforderungen an den Einsatz von Pestiziden im Einzugsgebiet einer Wasserversorgung. Es sollten sämtliche Stoffe verboten werden, die schlecht und nicht vollständig abbaubar sind. Selbstverständlich müsste die Einhaltung einer solchen Einschränkung trotzdem überprüft werden.
Sind Hersteller dazu verpflichtet, nach der Markteinführung von neuen Wirkstoffen zu überprüfen, ob die Angaben, die sie bei der Zulassung gemacht haben, mit der Realität übereinstimmen, zum Beispiel im Hinblick auf die Abbauzeiten der Wirkstoffe?
Solche Vorgaben gibt es derzeit leider nicht. Meiner Ansicht nach besteht hier ein grosses Defizit. Eine Zulassungsbewilligung sollte immer ein Monitoring an verschiedenen Orten vorschreiben. Nur so kann überprüft werden, ob sich die Stoffe in der Natur so verhalten wie dies angenommen worden ist. Chlorothalonil zeigt die Folgen eines fehlenden Monitorings: Es dauerte über 40 Jahre, bis die Abbauprodukte entdeckt worden sind.
Meinen Sie damit, dass die Bauern Protokoll darüber führen sollten, welche Stoffe sie wo in welcher Konzentration ausbringen und Sie als zuständige Kontrollbehörde dann die Daten übermittelt bekommen?
Die Einsätze müssen bereits heute von den Landwirten in Journalen protokolliert werden. Doch wir können nicht ständig bei allen Landwirten vorstellig werden und die Daten in mühsamer Detailarbeit zusammentragen. Wir brauchen solche Informationen in konsolidierter und digitaler Form.
Wie geht man heute damit um, wenn sich herausstellt, dass die Realität sich nicht mit den Angaben der Hersteller deckt? Wer haftet für Schäden, die sich daraus ergeben?
Das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) überprüft die Anwendungsvorschriften von bereits bewilligten Mitteln im Rahmen des sogenannten «Programms zur gezielten Überprüfung». Dabei werden neue wissenschaftliche Erkenntnisse mitberücksichtigt. Als Vollzugsbehörde des Gewässerschutzrechts überprüfen wir regelmässig die Qualität von Fliessgewässern und Grundwasser, teilweise auch zusammen mit dem Bund. Die Befunde teilen wir regelmässig dem BLW mit, damit sie bei der Beurteilung mitberücksichtigt werden können. Man muss allerdings wissen, dass wir bei unseren Untersuchungen oft im Trüben fischen, weil wir keine ausreichenden Angaben über das Vorkommen der Stoffe haben. Das ist kein Monitoring wie Sie es angesprochen haben. Insbesondere in kleineren Fliessgewässern werden ökotoxikologische Höchstwerte regelmässig überschritten. Mir ist nicht bekannt, dass in der Schweiz je ein Produzent für solche Schäden an der Natur haften musste.
Also wird hier das Verursacherprinzip nicht angewendet. Aber ist es denn überhaupt möglich, bei kleineren Gewässern den Verursacher der Verschmutzung zu ermitteln?
Es gibt verschiedene mögliche Verursacher einer Verschmutzung. Wenn eine Verschmutzung grossflächig auftritt, dann kann man davon ausgehen, dass die Einschränkungen oder Regulierungen auf nationaler Ebene unzureichend sind. Lokale Verschmutzungen weisen eher auf eine Fehlanwendung hin. Einen Verursacher ausfindig zu machen ist Detektivarbeit.
Wie könnte das von Ihnen geforderte Monitoring konkret aussehen, von wem sollte es durchgeführt werden und wer sollte Ihrer Ansicht nach für die Kosten aufkommen?
Das Verhalten der Stoffe müsste an einer bestimmten, repräsentativen Anzahl von Einsatzgebieten überprüft werden. Dazu gehören nicht nur Messungen im Wasser, sondern insbesondere auch im Boden, da dieser eine grössere Rolle spielt als noch vor kurzem angenommen worden ist. Die Untersuchungsmethoden sowie das Referenzmaterial müssten vom Produzenten zur Verfügung gestellt werden. Die Durchführung des Monitorings muss einer unabhängigen Stelle übertragen werden. Für die Kosten müssen selbstverständlich die Gesuchsteller aufkommen.
Sie sagen, dass Ihnen insbesondere Wirkstoffe Sorgen machen, die schon seit vielen Jahren auf dem Markt sind. Und Sie befürchten, dass sich Fälle wie bei Chlorothalonil wiederholen, wo Toxikologen plötzlich zu dem Ergebnis gekommen sind, dass der Wirkstoff doch viel gefährlicher ist als ursprünglich angenommen wurde. Wäre es bei den problematischen Stoffen nicht sinnvoll, die Hersteller rückwirkend zu einem solchen Monitoring zu verpflichten oder auch durch Kontrollbehörden zu prüfen, ob sich die Stoffe so verhalten, wie bei der Zulassung angegeben?
Im Rahmen des Aktionsplanes Pflanzenschutzmittel wird überprüft, welche weiteren Wirkstoffe ebenfalls zu langlebigen Abbauprodukten führen. Diese Stoffe werden nun sukzessive in die Überwachungsprogramme von Bund und Kantonen eingebaut. Ich gehe davon aus, dass wir in den nächsten Jahren ein vollständiges Bild der Situation erhalten werden. Mit der gezielten Überprüfung werden ältere Stoffe bereits überprüft. Ich würde den Fokus auf die neu zu bewilligenden Stoffe legen.
Chlorothalonil war über vierzig Jahre lang auf dem Markt und wurde in grossen Mengen eingesetzt. Und erst nach dieser langen Zeit wurde festgestellt, dass bei diesem Wirkstoff Gesundheitsschäden nicht ausgeschlossen werden können.
Ein Einzelfall ist das nicht. Schon viele Stoffe sind vom Markt genommen worden, weil sich erst nach der Zulassung herausstellte, wie gefährlich diese Stoffe eigentlich sind, entweder für das Ökosystem oder die menschliche Gesundheit. Woran liegt das? Sind die Kontrollen bei der Zulassung nicht streng genug? Sind die Kontrollbehörden zu naiv oder risikofreudig, wenn es um Umweltschutz und den Gesundheitsschutz der Bürgerinnen und Bürger geht?
Die Wissenschaft macht Fortschritte und kommt zu neuen Erkenntnissen. Wenn nun Stoffe nicht mehr zugelassen werden, dann ist dies auch ein Zeichen dafür, dass die neuen Erkenntnisse in die Beurteilung einfliessen. Aber Sie haben Recht: Die Anzahl der nicht mehr bewilligten Stoffe ist schon sehr gross. Das weist darauf hin, dass man früher die Risiken deutlich geringer eingeschätzt hat.