Im Weltagrarbericht 2009, der von der Weltbank und der UNO in Auftrag gegeben wurde, wird eine Transformation der Landwirtschaft gefordert. In dem Bericht tragen über 400 Expert:innen aus verschiedenen wissenschaftlichen Richtungen, zivil- gesellschaftlichen Organisationen, dem Privatsektor und verschiedenen Entwicklungspartnern ihr Wissen zusammen und machen konkrete Vorschläge, wie eine solche Transformation möglich ist. Man wusste schon damals, dass wir genügend gesunde Nahrung produzieren können, ohne Chemie, ohne Landraub, ohne Landzerstörung und ohne Biodiversitätsverluste!
Ein Interview mit Dr. Hans-Rudolf Herren. Von Christopher Schümann & Mathias Forster.
Dr. Hans Rudolf Herren ist einer der weltweit führenden Experten in der biologischen Schädlingsbekämpfung. Als Pionier bekämpfte er ohne Chemie in den 1980er Jahren erfolgreich die Schmierläuse, die in Afrika das wichtige Grundnahrungsmittel Maniok bedrohten. Er entdeckte eine in Paraguay vorkommende Wespenart, die ein natürlicher Feind der Schmierlaus ist. In der grössten Freisetzungskampagne aller Zeiten wurden daraufhin in 24 Staaten Afrikas 1,6 Mio. Wespen erfolgreich auf die Schmierläuse losgelassen. Als erster Schweizer wurde Herren dafür 1995 mit dem Welternährungspreis geehrt. Die Jury wählte ihn aus, weil der Wissenschaftler durch sein Engagement 20 Mio. Menschen vor dem Hungertod gerettet hat. Später wurde Herren zum Co-Präsidenten des IAASTD (Weltagrarbericht), der von 59 Ländern angenommen wurde.
2013 wurde Herren mit dem Right Livelihood Award ausgezeichnet. Diese Auszeichnung erhielt Herren zusammen mit der Stiftung Biovision, deren Gründer & Präsident er ist. 2017 wurde Herren in den Vorstand des Internationalen Verbands der ökologischen Landwirtschaftsbewegungen (IFOAM) gewählt.
Herr Herren, sie sind seit längerer Zeit Botschafter des Bodenfruchtbarkeitsfonds, worüber wir uns sehr freuen!
Wir wollen mit Ihnen über eine Frage reden, die derzeit, seit langem und immer wieder viele Gemüter beschäftigt: Kann Bio die Welt ernähren?
Es gibt inzwischen verschiedene Studien zu dem Thema. Sie kommen allerdings oftmals zu gegensätzlichen Ergebnissen. Das ist erstmal verwirrend.
Eine sehr zeitgemässe Frage, die in Diskussionen über den dringend notwendigen Kurswechsel in der Landwirtschaft immer wieder auftaucht. Im Weltagrarbericht 2009 („Agriculture at a Crossroads”), der von der Weltbank und der UNO in Auftrag gegeben wurde, wird eine Transformation der Landwirtschaft gefordert („Business as usual is not an option”). Seitdem gibt es neue Studien zum Beispiel für Europa (IDDRI, 2019). Die Studie macht deutlich, dass Europa sehr gut mit agrarökologischen Prinzipien ernährt werden kann, allerdings mit der Voraussetzung, dass auch weniger Fleisch konsumiert wird. Das ist ja auch gesünder und trotzdem muss niemand ganz auf Fleisch verzichten.
Zu gegensätzlichen Einschätzungen kommen aber vor allem Studien, die von der Agrarchemie in Auftrag gegeben wurden. Der Gegensatz zeigt sich schon, wenn die Erträge aus dem Ökolandbau mit denen der konventionellen Landwirtschaft verglichen werden. In einer vom Industrieverband Agrar (IVA) initiierten Studie aus dem Jahr 2016 zum Beispiel findet man die Aussage, dass im ökologischen Landbau in Deutschland 51 Prozent geringere Erträge erzielt werden als in der konventionellen Bewirtschaftung. Die deutlich geringeren Erträge im Ökolandbau werden von der Agrarchemie immer wieder als Argument gegen eine Agrarwende angeführt, insbesondere vor dem Hintergrund der wachsenden Weltbevölkerung.
Das wird immer wieder wiederholt, bis es die Leute glauben … Tatsache ist, dass man immer aufpassen muss, was man vergleicht. Die industrielle Landwirtschaft produziert Güter (commodities), nicht Nahrung. Von den Biobauern/innen bekommen die Konsumenten qualitativ hochwertige Produkte, die nur wenig oder keine Umweltschäden und Gesundheitsprobleme hervorrufen. Neuere Studien (IPES-Food 2016) zeigen, dass im Durchschnitt die Ertragseinbusse nur 8% beträgt. Berücksichtigt man, dass derzeit ca. 40% der Nahrungsmittel im Müll landen, was grösstenteils vermeidbar wäre, wird schnell deutlich, dass man selbst bei 100% Bio noch mehr als genug hätte. Für die Bauern/innen wäre ein solch radikaler Kurswechsel vollkommen unproblematisch, weil für Bioprodukte höhere Preise gezahlt werden.
Für die Konsumenten liegen die Vorteile auch klar auf der Hand, weil sie schlussendlich weniger für ihre Gesundheit ausgeben müssen, weniger Steuern zahlen, da es dann weniger Umweltschäden gibt usw. Natürlich sind diese Vorteile teilweise nicht sofort spürbar. Es gilt aber heute als erwiesen, dass etliche Gesundheitsschäden auf Nahrung mit Pestizidrückständen zurückzuführen sind. Innerhalb der zulässigen Grenzwerte für Pestizidrückstände werden übrigens die Akkumulationseffekte oft nicht berücksichtigt, was wenig bekannt ist. Bei Kleinkindern und Babies
wäre wegen dem kleineren Körpergewicht ganz besonders wichtig, dass man ihnen keine mit Pestiziden kontaminierten Lebensmittel gibt. Der wachsende Drang junger Mütter für Bio-Babyfood ist ein erfreuliches Zeichen dafür, dass die Leute aufwachen und sich ein gesundes Misstrauen gegenüber den Produkten aus der konventionellen und industriellen Landwirtschaft bildet.
Sie sagten in einem Interview für die WOZ im Jahr 2015: „Biobauern produzieren pro Hektar mehr Kilogramm Nahrungsmittel als industrielle Bauern: in Brasilien, in den USA, in der Schweiz – überall auf der Welt.“
Wenn das stimmt, wäre das eine spektakuläre Neuigkeit.
Dies stimmt auch, wenn man eingesehen hat, dass man nicht nur die Masse in Kg berücksichtigen darf, sondern sich zusätzlich die Nährwerte anschauen muss, z.B. die Mineralien, Vitamine und andere essentielle Nährstoffe. Das sind qualitative Aspekte, die unbedingt berücksichtigt werden müssen. Dazu gibt es überzeugende wissenschaftliche Literatur (https://www.npr.org/sections/thesalt/2016/02/18/467136329/is-organic-more-nutritious-new-study-adds-to-the-evidence), die zeigt, dass die hochgezüchteten Sorten im Verhältnis mehr Stärke und oft auch mehr Wasser aufweisen. Wozu brauchen wir Tonnen von solchen Gütern, wenn wir heute schon doppelt soviel produzieren wie wir brauchen? Das ergibt absolut keinen Sinn. Wir müssen uns schnellstens überlegen, wie lange so ein korruptes und bankrottes System hinsichtlich der planetaren Grenzen überhaupt tragbar ist.
Hinzu kommt, dass diese Güter nur „scheinbar“ billig sind, weil für die Produktion dieser kalorienreichen und nährstoffarmen, die Umwelt und Gesundheit schädigenden Produkte sehr viel fossile Energie benötigt wird, in Form von Dünger, synthetischen Pestiziden und Diesel. Das sind Kosten, von denen sich ein grosser Teil nicht in den Preisen niederschlägt, weil diese Kosten externalisiert sind. Diese Landwirtschaft und das dazu passende Nahrungssystem zerstört sich selbst, zum Beispiel über den Klimawandel, an dessen Beschleunigung sie mit etwa 50% der totalen Emissionen beteiligt ist. Im Gegensatz dazu hat der Biolandbau das Potenzial, einen positiven Effekt auf den Klimawandel zu entfalten, da er bedeutende Mengen Kohlenstoff im Boden binden kann.
Wenn man den Output verschiedener Agrarsysteme vergleichen will, sollte man das im erweiterten Sinne der Agrarokölogie tun, die das Nahrungssystem ganzheitlich betrachtet und sehr viele wichtige Faktoren berücksichtigt.
Dann fällt der Vergleich eindeutig zugunsten des Ökolandbaus aus!
„Mir fällt, abgesehen von gegenläufigen finanziellen Interessen, kein einziger Grund ein, warum wir nicht so schnell wie möglich zu 100% auf regenerative Landwirtschaft umstellen sollten.“ Diese prägnante Aussage stammt von Jan-Gisbert Schultze, dem Begründer von Soil Alliance, einem Verein zur Förderung von regenerativer Landwirtschaft. Dem würden Sie wahrscheinlich zustimmen, oder?
Ja, absolut. Und dies aus verschiedenen Gründen, von unserer Gesundheit bis zur Lösung des Klimawandel-Problems und dem Erhalt des Planeten Erde für die nächsten Generationen.
Mit Produkten aus der Agrochemie werden Milliarden verdient. Zuweilen scheinen die Methoden zur Durchsetzung dieser Interessen ruppig, vielleicht sogar kriminell zu sein. Gerade ist öffentlich geworden, dass Monsanto wahrscheinlich seit Mitte des Jahrzehnts in ganz Europa Listen mit Kritikern des Unternehmens und seiner Produkte erstellt hat. Auf diesen Listen stehen einflussreiche Persönlichkeiten aus Politik, Medien und Wissenschaft. Sie werden darauf mit Noten von 0 bis 5 geführt, je nach Einfluss und Unterstützung für Monsanto. Besonders kritische Personen sollten gemäss den Listen „erzogen“ oder sogar „überwacht“ werden.
Interessant wird sein, in Zukunft mehr über die „Erziehungs- und Überwachungsmethoden“ von Monsanto zu erfahren. In Frankreich hat sich bereits die Justiz eingeschaltet. Wundert es Sie, dass Firmen wie Monsanto mit solchen Methoden arbeiten?
Eigentlich nicht, ich bin ja sicher auch auf einer solchen Liste, da ich ein Mitbegründer des Monsanto Tribunal
(https://de.monsantotribunal.org) war. Es ist mir auch klar geworden, dass mit dem Vormarsch der Agrarökologie, Biolandbau und regenerativer Landwirtschaft weltweit dies eine Gefahr für die Agrochemie darstellt, und jetzt ein starker „push-back“ zu spüren ist. Wir haben das zum Beispiel gespürt durch das Absagen von finanzieller Unterstützung einer Entwicklungsbank für eine Agrarökologie-Konferenz in Nairobi diesen Juni, nachdem bereits Versprechungen gemacht wurden.
Eine weitere, kürzlich veröffentlichte Studie zeigt die Verflechtungen von Agrarpolitik, Agrarwirtschaft und Bauernverbänden in Deutschland auf. Die Studie wurde vom NABU in Auftrag gegeben und vom Institut Arbeit und Wirtschaft (iaw) der Universität Bremen durchgeführt (Quelle). Im Ergebnis haben die Verflechtungen seit der Jahrtausendwende noch zugenommen. Dadurch konnten die Handlungsmöglichkeiten der industriellen Landwirtschaft insgesamt gestärkt werden.
Die Autoren sehen in der Verflechtung von Agrarpolitik, Agrarwirtschaft und Bauernverbänden eine mögliche Erklärung dafür, dass sich die industrielle Landwirtschaft mit ihren Interessen bisher durchsetzen konnte, obgleich zahlreiche Studien belegen, dass diese Landwirtschaft nicht im Interesse des Gemeinwohls ist.
Wo soll man ansetzen, um doch noch rechtzeitig eine Trendwende hinzubekommen? Es scheint wie beim Kampf David gegen Goliath zu sein.
Wir brauchen eine viel bessere Aufklärung der Konsumenten und Mitgestalter. Dies muss schon im Kindergarten anfangen, bis zur Universität bzw. Lehre. Alle diese Institutionen sollten nur Bio-Produkte, oder Produkte aus der nachhaltigen Landwirtschaft (nicht unbedingt zertifiziert/das ist ein Kostenpunkt und man muss hier auch ein bisschen besser überlegen, wie man das Gute und Nachhaltige in Zukunft mehr fördert, statt es auszubremsen) servieren. Vor allem in der Schweiz ist eine vollständige Umstellung auf nachhaltige Landwirtschaft möglich, da der Durchschnittsbürger nur ca. 6% vom Einkommen für Ernährung ausgibt.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist: Die Bauern und Wissenschaftler, die im Bereich der alternativen Landwirtschaft arbeiten, müssen in Zukunft viel besser zusammenarbeiten. Ich beobachte verschiedene Spaltungen innerhalb der Szene, zum Beispiel zwischen Bio und Permakultur, zwischen Agrarökologie und Bio, oder Bio und Biodynamisch. Wir wollen ja eigentlich alle dasselbe: eine Landwirtschaft, die in Harmonie mit der Umwelt arbeitet und dem Wohl der Menschen dient. Warum einigen wir uns nicht auf das Gemeinsame und gehen zusammen vorwärts und legen die paar Uneinigkeiten mal für einen Moment auf die Seite? Unsere Kraft liegt im Zusammenarbeiten, das macht die Industrie schon lange so, zum Beispiel mit CropLife International, ihrer Dachorganisation.
Die vom NABU in Auftrag gegebene Studie kommt zu dem Ergebnis, dass zumindest in Deutschland der Deutsche Bauernverband massgeblich daran beteiligt ist, eine Agrarwende zu verhindern. Das kann man aber offenbar nicht den einzelnen Landwirtschaftsbetrieben anlasten. Von denen fühlen sich 50% laut der Studie schlecht vom DBV vertreten, 68% sind mit der aktuellen EU-Förderung unzufrieden, 91% wünschen sich eine tierfreundliche Viehhaltung, 83% sind für eine umweltfreundliche Produktion, aber sie wollen natürlich auch, dass man ihnen den Mehraufwand bezahlt.
Andererseits gibt es auch viel Angst unter den Bauern, dass sie grosse Probleme bekommen werden, wenn sie auf synthetische Pestizide verzichten müssen. Was schlagen Sie vor, um den konventionell wirtschaftenden Bauern die Angst zu nehmen?
Uns fehlen noch klare Transformationsstrategien. Die Bäuerinnen und Bauern müssen mehr Zugang zu Forschungsresultaten haben, die Ihnen helfen sowohl besser und oft auch mehr zu produzieren, und gleichzeitig nachhaltiger, das heisst in Harmonie mit der Umwelt. Und wir brauchen diese Strategien schnell. Dies bedeutet, dass die Agrarforschung auf 100% Bio/Agrarökologie umstellen müsste, und dies möglichst sofort. Ausserdem sollten Subventionen nur noch für Systemtransformation, nachhaltige Praktiken und Versicherungen während der Umstellung ausbezahlt werden. Die Bäuerinnen und Bauern würden schlussendlich dasselbe Geld erhalten, nur diesmal für positive, dem Gemeinwohl dienende Leistungen. Langfristig, wenn ganzheitliche Preise eingeführt sind, können die Subventionen insgesamt abgeschafft werden, da die Konsumenten dann gerechte Preise für ihre Produkte zahlen werden. Die Konsumenten entscheiden dann selber, wofür sie die eingesparten Gelder (Subventionen, kleinere Krankenkassenbeiträge, weniger Umweltschäden usw.) brauchen wollen.
Das klingt gut. Bisher fliesst allerdings noch sehr viel Geld in die Erforschung und Entwicklung der konventionellen Landwirtschaft.
Die Staaten, auch die Schweiz, überlassen die Forschungsfinanzierung für Landwirtschaft und Ernährung zum grösseren Teil dem Privatsektor, obwohl es hier um von der UNO anerkannte Menschenrechte geht: Das Recht auf genügend und gute Nahrung. Die Forschung gehört in den „öffentlichen Sektor“ und muss öffentliche Güter „produzieren”, die allen helfen und die ohne Patente auf Leben und Saatgut allen zugänglich sind.
Insgesamt kann man den Eindruck gewinnen, dass wir auf systemische Fehlentwicklungen in der Landwirtschaft zurückblicken, die über Jahrzehnte nicht korrigiert wurden. Gleichzeitig geht ein Aufwachen durch die Gesellschaft für die Folgen dieser Fehlentwicklungen. Sehen Sie das auch so?
Es gibt zum Glück ein Aufwachen in der Gesellschaft, dass etwas mit unserem Ernährungssystem nicht stimmt. Die Menschen erkennen langsam den Zusammenhang von Klimawandel, Verlust unserer Biodiversität, Wasserverschmutzung, steigenden Gesundheitskosten und abnehmender Lebensqualität. Die NGOs haben die im Agrarbericht gemachten Vorschläge zur Transformation der Landwirtschaft gefördert, nicht die Regierungen. Auch nicht die UNO-Organisationen, obwohl sie den Agrarbericht in Auftrag gegeben hatten.
Die internationalen sowie die meisten regionalen und nationalen landwirtschaftlichen Forschungsanstalten sind im Grünenrevolutionsparadigma stecken geblieben – bis heute. Das muss und wird sich ändern. Der Klimawandel ist im Vormarsch und ohne eine total ökologische Landwirtschaft ist er nicht zu bremsen. Falls das den „Alten“ noch nicht klar genug geworden ist, dass wir einen radikal neuen Kurs ansteuern müssen, ist es zum Glück unserer Jugend klar.